Neoliberalismus

Folgt man dem Gabler Wirtschaftslexikon findet sich eine sehr idealisierte und gelinde gesagt verkürzte Definition des Neoliberalismus als „Ausführliche Definition“.

Neoliberalismus sei demzufolge eine „Denkrichtung des  Liberalismus. Forderungen des klassischen Liberalismus werden aufgegriffen, das Konzept jedoch aufgrund der Erfahrungen mit dem Laissez-Faire-Liberatismus, sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft und dem konzeptionslosen Interventionismus, der spätestens seit Beginn des 20. Jh. die Wirtschaftspolitik der meisten marktwirtschaftlichen Ordnungen kennzeichnet, korrigiert.“[1]

Es scheint also die notwenige „Korrektur“ eines sonst freidrehenden Marktes und eine logische Konsequent aus staatssozialistischen Wirtschaften. Implizit erfolg inmitten der Definition eine Wertung: Es ist eine Verbesserung zum Vorherigen. 
Dieses Denken ist auch in dem verankert, was viele von uns mit dem, was Neoliberalismus ist verbinden. 

Lesen wir weiter, so kommen wir auf einen Teil, der einige Kernpunkte der neoliberalen Struktur beinhaltet, bei weitem aber keiner „Ausführlichen Definition“, sondern Rosinenpicking darstellt. 

Betont wird wieder die Ordnungsabhängigkeit des Wirtschaftens und die Bedeutung privatwirtschaftlicher Initiative. Stärker als im klassischen Liberalismus, wird berücksichtigt, dass der Wettbewerb durch privatwirtschaftliche Aktivitäten bedroht ist, da sich ihm die Marktteilnehmer durch die Erlangung von Marktmacht zu entziehen versuchen. Daher soll der Staat den freien Wettbewerb aktiv vor dem Entstehen privatwirtschaftlicher Marktmacht wie auch vor staatlich verursachter Marktvermachtung schützen.“ [1] 

Diese Definition wird weder den vielfältigen Denken neoliberaler Schulen und ihrer Theoretiker gerecht, noch bietet sie einen Analyserahmen für sozio-ökonomische Zusammenhänge.
Das Neoliberale Paradigma hat aber genau das zum Anspruch: Unser kulturelles und sozio-ökonomisches Miteinander aus einer Marktlogoik heraus zu beschreiben und zu ordnen. Der Neoliberalismus hat somit einen Totalitätsanspruch der Neoliberalen Theorie.

„Neoliberale Theoretiker […] beanspruchen, mit ihrer Weltanschauung nicht nur die wichtigsten Zusammenhänge des Wirtschaftslebens erklären zu können, sondern auch die Interaktionen der Menschen schlechthin. […]
So würde die Logik der Maximierung des individuellen Nutzens bei umfassender Konkurrenz („jeder gegen jeden“) alle wesentlichen Entscheidungen, Institutionen bzw. Verhaltensweisen im Zusammenleben von Menschen prägen, wie etwa die Wahl des Lebenspartners.“ [2, 161 f.]

Nun aber die Erklärung, was sind die Kernaussagen und Forderungen des Neoliberalismus?

Wahrnehmungsraster und Forderungen des Neoliberalismus 
  • Grundlage menschlichen Handelns bildet das Streben nach Eigennutz
  • Konkurrenz der Individuen löst alle gesamtgesellschaftlichen Probleme und erreicht ein gesamtwirtschaftliches Optimum
  • Eine Unsichtbare Hand, ein Marktautomatismus vermittelt zw. Eigennutzund Gesellschaft. Märkte tendieren zum Gleichgewicht, wenn man sie von allen Einflüssen befreit.
  • Grundlage ist der Homo Oekonomicus. Jeder handelt rein rational im Sinne der individuellen Nutzenfunktion
  • Soziale Einbettung der Individuen in Subsysteme wie Familie und Co. werden nicht berücksichtigt, bzw. die Annahmen als unverändert geltend betrachtet.
    [2] S.158

Auf darauf aufbauenden Modellen werden folgende Schlussfolgerungen getätigt:

  • Staat und die freien Akteure auf Märkten sind Gegner.
  • Markt ist wichtiger als Staat. D.h. Markt sticht Demokratie, oder Geld und Marktmacht ist die demokratische Einflußgröße
  • Staatliche Eingriffe sind an sich schlecht. Sie sind ggf. Übergangsweise an mancher Stelle (sehr begrenzte Aufzählungen bei Friedman siehe [3]) notwendig, aber müssen eliminiert werden.
  • Legitim ist staatliches Handeln insbesondere zur Schaffung der vollkommenen Marktfreiheit und Wahrung eines stets ausgeglichenen Haushalts.
  • Ablehnung staatlichen Handelns auch auf Finanzmärkten (Regelung von Devisen/ Wechselkursen usw. Soll den Marktakteuren gänzlich überlassen werden).
  • Verbandsbildungen (Gewerkschaften, Vereine etc. ) zur Interessenvertretung und Tarife werden abgelehnt
  • Arbeitslosigkeit liegt alleine im zu hohen Lohnniveau. Die Absenkung der Lohnnebenkosten und der Ausstieg aus paritätisch finanzierten Systemen muss Ziel staatlichen Handelns sein. Arbeitslosigkeit ist im Individuum und seinem Angebot begründet. 
  • Der Sozialstaat ist ein Problem. Alle Sozialen Fragen sollten dem Markt überlassen werden.
    [2], S158f

Diese Art der Ökonomie wird als naturhaft und logisch behauptet und als gänzlich unpolitisch.
Es gibt keinen Interessengegensatz und keine Diskriminierung der Individuen nur einen freien Wettbewerb aller, auf dem das Angebot entscheidet. Wenn der Markt entscheidet, dass weiblich oder schwarz nicht das richtige Angebot ist, dann ist das für Theoretiker wie Friedman keine Diskriminierung. 
Andererseits aber ist die Argumentation, warum ein freier Markt weniger rassistisch oder diskriminierend ist, ist dass in einem globalisierten Wirtschaften am Ende jedes Produkt von allen möglichen Individuen erstellt wurde und in der Ware die Unterschiede absorbiert, sodass der Käufer gar nicht von ihnen beeinflusst sein kann. Aber auch aus der Unternehmerlogik gibt es somit bei freiem Wettbewerb keinen Grund für Rassismus. Denn er würde da Produzieren, wo es für ihn am optimalsten ist. 
Das kolonialistisch bedingte Nord-Süd-Gefälle wird vollkommen ausgeblendet. 

Gerechtigkeit und Freiheit

„Das Fundament der liberalen Philosophie ist der Glaube an die Würde des Einzelnen, an seine Freiheit zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten in Übereinstimmung mit seinen persönlichen Fähigkeiten mit der einzigen Einschränkung, dass er nicht die Freiheit anderer Personen beschränke, das Gleiche zu tun. Dies impliziert den Glauben an die Gleichheit der Menschen in einer Beziehung: ihrer gegenseitigen Ungleichheit. Jeder Mensch hat das gleiche Anrecht auf Freiheit. Dieses Recht ist wichtig und grundlegend, gerade weil die Menschen verschieden sind, weil der eine etwas anderes mit seiner Freiheit anfangen wird als der andere und dabei mehr als andere zu der allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, in der viele Menschen leben, beitragen kann.“ [3]

Freiheit wird als die Abwesenheit von Zwang verstanden und die Freiheit mit seiner eigenen Freiheit das anzufangen, was man möchte, solange man niemand anderes seine Freiheit einschränkt.
Es geht um die Freiheit, seine „Möglichkeiten zu verwirklichen“. Das ist was anderes als seine Vorstellungen auf ein bspw. barrierefreies Leben zu verwirklichen.

„Mit dem „Ich allein bin meines Glückes Schmied!“ wird zudem die Verantwortung für ihr Leben alleine den einzelnen Menschen zugeschrieben. Wenn sie krank werden, waren nicht etwa die Arbeitsbedingungen schlecht oder das Gesundheitssystem marode – nein, da hat angeblich jeder Einzelne nicht genug für seine Fitness, seine Gesundheit, seine Ernährung getan. „ [5]

Diese Liberale Perspektive mag dem ein oder anderen als nobel und ethisch erscheinen. Schauen wir uns jedoch obige Postulate und die Praxis an, so wird klarer, was mit dieser Freiheit konkret gemeint ist:

„Es kommt darauf an, wie man Freiheit definiert. Für Neoliberale bedeutet Freiheit im Grunde nur, nicht von Staat und Gesellschaft belästigt zu werden – “belästigt” etwa durch zu hohe Besteuerung, Regulierung, Sozialleistungen, Arbeitnehmerrechte oder jegliche Form von organisierter Solidarität. Der Mensch gilt hier als frei, wenn er auf sich alleine gestellt den Marktkräften ausgesetzt ist.“ [5]

Der Gerechtigkeitsbegriff ergibt sich als absolute Gleichheitsdoktrin. Für alle, unabhängig ihrer Rahmenbedingungen müssen die gleichen Rechte gelten. 
Eine Bevorteilung von Berufsgruppen oder Menschen, denen es gesellschaftlich schlechter geht ist Marktgefährdend eine private Wohlfahrt hingegen zulässig. Arme und Bedürftige wären so auf wirtschaftlich Stärkere und deren good will angewiesen. 
Es funktioniert in der Logik als Generosität als Ware, gutes zu tun als Erfüllung eines individuellen Nutzen. 

„Eine Abhilfe, und in vielerlei Hinsicht die wünschenswerteste, liegt in privater Wohltätigkeit. Es ist bemerkenswert, dass in der Periode des Laissez-faire, in der Mitte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien private Hilfsorganisationen und wohltätige Einrichtungen eine außergewöhnliche Verbreitung erfuhren. Einer der Hauptnachteile der Zunahme öffentlicher Wohlfahrt lag in der gleichzeitigen Abnahme privater Aktivitäten dieser Art. 
Man mag argumentieren, dass private Wohlfahrt unzulänglich sei, dass ihre Vorteile anderen Menschen zugute kommen als denen, von denen die Zuwendungen stammen – wieder ein Fall von Nebeneffekt. Der Anblick der Armut beunruhigt mich, ich profitiere vom Abbau der Armut;“ [3]


Zurück zur Totalitätsanspruch

Wie äußert sich dieser Totalitätsanspruch in unserem Leben? 
Er äußert sich bspw. indem wir immer mehr Bereiche unseres Lebens in einer Marktlogik betrachten. 
Die Reformen hinter Agenda 2010, die zum Leid und Armut vieler Menschen entstanden in diesem Denken. 
Hier sehen wir auch, mit welchem gesellschaftlichen Deutungsanspruch und -deutungsmacht diese Veränderungen flankiert werden. Sprach man in den 60ern noch von Arbeitern und Unternehmern bzw. Kapitalisten, wird heute von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gesprochen (Was faktisch das Verhältnis Umkehrt, denn wer gibt denn die Arbeit).
Neologismen wie die „Soziale Hängematte“ „Leistungsträger und Leistungsnehmer dieser Gesellschaft“ … entstammen nicht selten tatsächlichen Kommissionen mit dem Ziel bestimmte politische Entscheidungen zu vermarkten. 
Als eins der neueren Beispiele kann der auf der CEBIT entstandene Begriff „Arbeit 4.0“ betrachtet werden, den nun planmäßig alle Welt benutzt, mit welchem Unternehmen nachfolgend umfassende Rationalisierungsmaßnahmen rechtfertigen. Die Rationalisierung folgt allerdings keiner anderen Logik als dem Eigennutz, der Gewinnmaximierung. Denn der gesamtgesellschaftliche Wohlstand, das Wirtschaftswachstum hätte genauso zu einer Debatte über Arbeitszeitverkürzung führen können. Dazu fehlen allerdings die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, denn es ist gelungen die neoliberalen Postulate und insbesondere die TINA (There is no Alternative) in unser innerstes Sein zu sozialisieren. 

Der Partnermarkt bspw. Partnerbörsen und Tinder sind ein ganz konkretes Phänomen dieser Logik. 
Es sagt uns: Jeder hat die Möglichkeit auf einen Match. Wenn du dein Potential ausgeschöpft und gut inszeniert hast und an die aktuelle Marktlage angepasst bist, dann erhältst du soziale Anerkennung. 

Dabei ist diese Unterwerfung er Individuum unter die Logik des Neoliberalismus keineswegs als Gewalt im rohen Sinne zu Verstehen. Es ist eine Anpassungsindustrie die unheimlich produktiv ist und auf Kreativität und Autonomie setzt, oder sich darin vermarktet.

„Das klingt nicht nur widersprüchlich, sondern ist es auch: Die Anpassung an die Märkte besteht darin, formell autonom kreative Anpassungsstrategien zu entwickeln und anzuwenden. Denn es gilt ja, sich von anderen zu unterscheiden, die Nase vorn zu haben, besonders zu sein. Nicht zuletzt deshalb entwickeln beispielsweise die Hochschulen gerade eine enorme Erfindungsgabe, wenn es darum geht, neue eigenständige Studiengänge unter den wildesten Bezeichnungen zu entwickeln und zu bewerben.“ [2]

Ist jetzt der böse, böse Unternehmer schuld?

Nein Unternehmen und Unternehmer sind nicht böse. Sie agieren so wie sie es als gerecht und richtig empfinden. Schließlich ist es auch eine Generationen andauernde Sozialisation, die Eigentum (selbst das durch Zwangsarbeit erworbene und ererbte) als eigene Leistung zu definieren und zu betrachten. Sie sind der Konkurrenzlogik auf dem Markt, der Lohnspirale und allen Konsequenzen ganz faktisch ausgeliefert, genauso wie dem Ziel der Profitmaximierung. Aber sie profitieren auch (nicht alle und nicht gleichermaßen aber generell) von den „Sich selbst optimierenden“ neoliberalen Individuen vielfältige Weise:

  1. Die Arbeiter:innen messen sich in der Konkurrenz mit anderen und so will stets der andere ein noch besseres Ergebnis erzielen – bis zum Burnout. 
  2. Die Individuen sanktionieren sich selbst und normieren sich gegenseitig und gestalten so den Anpassungsapparat selbst mit. Das ist die Optimierung, die der Kapitalismus durch die Totalität erfahren hat. Aber: Sie selbst entscheiden darüber, ob sie sich im Bewusstsein dieses menschenverachtetenden Systems als Kritiker:in oder als systemtragend positionieren. Da die Mehrheit der Menschen, die nicht in einer vergleichsweise profitableren Situation ist, dafür entscheidet das System zu tragen, reicht es aus, einen bestimmten Stab an Expertinnen und Lobbyistinnen zu etablieren und Institute hochkarätig zu besetzen (INSM und co.) um so den Wahrnehmungsrahmen der Menschen zu bestimmen. Es ist aber auch nicht nur eine Selbstverantwortung, denn durch die Zugzwänge und die unterschiedlichen Startbedingungen haben Menschen unterschiedlich viel Kapazität, Dinge zu reflektieren. Deshalb muss es Ziel sein, die Startbedingungen für alle so zu gestalten, dass alle sich gleichermaßen am gesellschaftlichen Aushandlungsprozeß beteiligen können. Innerhalb der Konkurrenzlogik, wo jeder nur sein Interesse im Sinn hat, ist dies schlichtweg nicht möglich.
  3. Die Individuen bauen sich ein Selbstbild als Leistungsträger auf und grenzen sich nach unten hin ab. (Ressentiments und Diskriminierung anstelle von Systemkritik )

Das ist Deutungsmacht. Und wir alle tragen die Verantwortung dafür, ob wir Menschen diskriminieren wollen indem wir sagen: „Hey jeder ist seines Glückes Schmied und wo du herkommst spielt in der Welt keine Rolle, da jeder die gleiche Chance hat.“
Und uns so gegen sozio-ökonomisch benachteiligte, oder diskriminierte Menschen und unser eigenes Interesse stellen. 
Oder aber, ob wir das System kritisch unter die Lupe nehmen und in Frage stellen, immer dann, wenn Ressourcen oder die Deutungsmacht zu unserem Nachteil verteilt ist. 

——-

ps.: Leider habe ich die tollen Texte alle nur analog und bin auf Texte ausgewichen, die ich für andere zugänglich haben wollte. Es kann sein, dass hier nach und nach eine breitere Zitatesammlung, mit treffenderen Zitaten erfolgt. 

[1[ Gabler: Neoliberalismus
[2] Stephan Schulmeister, Das neoliberale Weltbild – wissenschaftliche Konstruktion von „Sachzwängen“ zur Förderung und Legitimation sozialer Ungleichheit in Schwarzbuch und Globalisierung, Klug, F., Fellmann, I. (Hrsg.), Kommunale Forschung in Österreich, IKW-Schriftenreihe, lfd. Nr. 115, 2006.
[3]Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Kap. 12 Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut
[4] Neoliberalismus – Eine kurze Einführung– Seminarmaterial der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Institut für Gesellschaftsanalyse / Akademie für Politische Bildung 
[5] Interview von Jens Wernicke mit dem Gewerkschafter und Autor Patrick Schreiner zu seinem Buch Unterwerfung als Freiheit auf le-bohemien.net